sammlung

Weghören

"Haben sie einen Euro für mich?"

Du hörst mir doch eh nicht zu. Entweder du machst jetzt das Radio aus oder du stellst es leiser, schaltest um oder vergisst gleich wieder, was ich gesagt habe – Aber richtig zuhören wirst du mir wahrscheinlich nicht. Ist ok. Ich werde ehrlich gesagt eh nichts Besonderes erzählen; nichts, was du nicht auch ohne mich wissen kannst oder sogar selbst schon erlebt hast.
Letztens am Hbf in Essen hat mich nämlich ein junger Mann angesprochen, höchstens so alt wie ich. Er wollte mich was fragen; ich hatte noch einen Stöpsel von meinen Kopfhörern im Ohr und schon „Nein“ gesagt, bevor er überhaupt zu Ende reden konnte. Ich wusste ja, dass er Geld wollte und hab ihn deshalb einfach nicht aussprechen lassen. Keine Ahnung, ich hatte einfach gerade keinen Kopf für sowas. Er ist richtig in sich zusammengesackt und dann resigniert weitergezogen. Erst da hab ich auch bemerkt, dass er humpelte.
Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal so ein schlechtes Gewissen hatte. Nicht mal weil ich ihm kein Geld gegeben habe, sondern weil ich so respektlos mit ihm umgegangen bin.
Dass man jemanden aussprechen lässt, ist eigentlich so selbstverständlich, dass die Geschichte jetzt nicht mal für `ne Message reicht. Das brauch ich hier niemandem zu erzählen. Ich bin einfach nur erschrocken, wie beiläufig und automatisch das manchmal geht, jemanden zu überhören, obwohl er direkt vor einem steht.

Beatrice Wypchol

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