sammlung

Lahm vor Scham

Wie heilsam Vergebung sein kann.

Wenn mich mein Gewissen quält, weil ich meinem Kind nicht die Aufmerksamkeit gegönnt habe, die es gebraucht hätte, weil ich meine diffuse Wut an meinem Lebenspartner ausgelassen habe, weil ich nicht auf meine Haustiere aufgepasst habe, weil ich bei der Arbeit etwas Wichtiges vergessen habe, weil ich meinen Mund nicht halten konnte, als ich besser geschwiegen hätte, dann drückt es mich mitunter so sehr, dass es mich lähmt. Mutlos werde ich und niedergeschlagen, fühle mich wie ein lästiger Fettfleck, mag niemandem mehr unter die Augentreten, zumindest nicht denen, an denen ich schuldig geworden bin.
Das einzige, was mich in dieser Situation entlasten kann, ist, das mein „Opfer“ mir mit Zuneigung und Verständnis begegnet. Dann kommt wieder Leben in meine Arme und Beine, dann kehren Antrieb, Kraft und Mut zurück.
So verstehe ich auch diese Geschichte aus dem Markus-Evangelium, den Predigttext des 23. Oktobers.

Vordergründig scheint es eine der üblichen Heilungsgeschichten zu sein: Einer ist krank, seine Freunde bringen ihn zu Jesus und weil sie so fest an Jesus glauben, wird er gesund.
Aber in diesem Text steckt viel mehr. Da gibt es einen Menschen, der sich nicht bewegen kann. Seine Freunde haben davon gehört, dass dieser neue Wanderprediger in der Nähe ist, der schon viele Leute von schweren Krankheiten geheilt hat. Also bringen sie ihren Freund zu ihm. Und sie geben wirklich alles. Das Haus ist voll, es gibt keine Möglichkeit, an den großen Heiler heranzukommen. Da beweisen sie Phantasie, Kreativität, Mut und Initiative. Sie heben ihn auf das Haus, decken das Dach ab und lassen den Freund auf einer Decke herunter, sodass er direkt vor Jesus zu liegen kommt. Jesus dürfte ziemlich überrascht gewesen sein. Und beeindruckt. Jemand, der solche Freunde hat, die sich so sehr für ihn einsetzen, der muss vieles in seinem Leben richtig gemacht haben. Wovon ließ der Mann sich so lähmen? Was auch immer er falsch gemacht hatte: Seine Freunde trugen ihm nichts mehr nach. Vielleicht war es gar nicht so gemeint, dass Jesus, der Sohn des Höchsten großspurig verkündet: „Ach, mein Kleiner, ich will mal nicht so sein, ich vergebe dir deine Fehler.“ Vielleicht wollte er ihn nur daran erinnern, dass seine Freunde ihm längst vergeben hatten.

Doch die Eifersüchtigen Religionsexperten, die es nicht ertragen konnten, dass sich jemand anmaßte, was sie selbst niemals gewagt hätten, obwohl sie sich doch ehrenwert wähnten, mehr als alle anderen, die warfen ihm vor, sich mit seiner Rede von Vergebung der schlimmsten aller Sünden schuldig zu machen: der Gotteslästerung.

Daraufhin liefert Jesus einen Beweis. Damals herrschte der Glaube vor, dass körperliche Gebrechen nichts anderes waren als Strafen für schwere Sünden. Wurde das Gebrechen geheilt, waren wohl auch die Sünden vergeben. Und so sprach Jesus in copperfieldscher Effekthascherei zu dem Gelähmten: „Steh auf, nimm deine Matte und geh!“
Von dieser äußerlich sichtbaren Wirkung waren alle beeindruckt. Trotzdem scheint mir, dem Heiler ging es mehr um das innere Gleichgewicht des Gelähmten: „Guck mal, du hast Freunde, die setzten sich so sehr für dich ein. Also hör auf, dich selbst fertig zu machen. Deine Verfehlungen sind nicht mehr relevant.“
In dem Moment, in dem es ausgesprochen wurde, konnte der Mann sich wieder bewegen.

Jeder Mensch verdient Vergebung. Niemand hat etwas davon, wenn die Schuld so sehr auf die Seele drückt, dass sie den Menschen lähmt. Meistens braucht es Zeit, auf jeden Fall eine Bitte um Verzeihung und oft auch irgendeine Form der Wiedergutmachung. Aber irgendwann ist es dann auch mal gut.
Bibelstellen zur Andacht:
Mk 2,1 - 12
Autor: Tine

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