Don’t hide your pride!
Jesus, der „queere“ König
Was soll das denn heißen? War Jesus schwul? Wahrscheinlich nicht, auch wenn er sich mit einer Schar von 12 Männern umgab. Ob er intime Beziehungen irgendeiner Art hatte, wissen wir leider nicht. Und dennoch finde ich die Bezeichnung „queer“ irgendwie treffend. Denn „queer“ bedeutet zunächst einmal allgemein „seltsam“, „sonderbar“, „anders“, „merkwürdig“ - die speziellere Verwendung des Wortes für eine vom heteronormativen Denken abweichende sexuelle Orientierung kommt erst später hinzu. Und Jesus war anders als sich die meisten Menschen vorgestellt hatten. Er stellte so manche gedankliche Ordnung seiner Zeit in Frage, untergrub vertraute Zuschreibungen wie „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“, „arm“ und „reich“, „stark“ und „schwach“ – und er erregte dadurch Anstoß. Jesus wandte sich den „queeren“ Menschen seiner Zeit zu, und das waren damals nicht LGBTQ-Personen, sondern zum Beispiel Zöllner oder Prostituierte, Aussätzige und Kranke. Und er predigte Liebe, die bedingungslose Liebe Gottes, die allen Menschen gleichermaßen gilt. Hätte es zu seiner Zeit schon einen Christopher Street Day gegeben, ich bin mir sicher, man hätte Jesus dort treffen können.
Und wenn wir einmal genau hinschauen, dann gab es in Jesu Leben etwas, das man durchaus als Pride-Parade bezeichnen könnte, in Jerusalem, um die Zeit des Pessach-Festes. Kein geringerer als Jesus selbst führte diese Parade an, besser gesagt, sie galt ihm ganz allein. Jesus ritt auf einem Esel, die Menschen jubelten ihm vom Straßenrand zu. Sie priesen ihn als den lang ersehnten König und Retter, von Gott geschickt. Sie sangen Lobpreis-Lieder, sie tanzten und feierten. Sie waren stolz, dabei zu sein in diesem großen Moment, voller Hoffnung und Erwartung. Es dürften sich Szenen abgespielt haben wie bei einer großen CSD-Parade, damals vor den Toren von Jerusalem. Und wie heute beim CSD gab es auch damals die Leute, die kopfschüttelnd daneben standen und „Unerhört!“ zischten.
Und Jesus? Der hatte bisher vor allem seine Worte wirken lassen und die Menschen aufgefordert, seine Wundertaten nicht an die große Glocke zu hängen. Doch nun scheint er seinen Weg unter ein anderes Motto zu stellen: „Don’t hide your pride!“ Jesus lässt sich einen jungen Esel bringen und reitet auf ihm in die Stadt. Er weiß, dass er sich damit selbst als den König und Retter inszeniert, den die Propheten angekündigt haben. „Don’t hide your pride!“ Jesus steht zu der Rolle, die Gott für ihn ausgewählt hat, er lässt sich die Titel "König" und "Retter" zurufen und die damit verbundenen Erwartungen aufbürden. Er ahnt sicherlich schon an diesem Punkt, wie schwer der Weg für ihn sein wird, er sieht, dass Jerusalem noch nicht bereit ist für einen König, wie er es sein möchte, und dass er die Menschen enttäuschen wird. Aber er entscheidet sich, den Weg zu gehen.
„Don’t hide your pride!“ Jesus zieht also nach Jerusalem, umjubelt und gefeiert. Und als ihn einige Pharisäer ermahnen, er solle doch seine Jünger zurechtweisen, ihm nicht solche Namen zu geben und ihn nicht auf diese Weise zu erhöhen, da spricht er zu ihnen: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien“ (Lk 19,40). Dieser Satz hat das Potential, Motto einer Pride-Parade zu sein, denn er bedeutet ja mit anderen Worten: Ich bin, was ich bin, und ich kann und werde diese Wahrheit nicht mehr verstecken. Die Wahrheit will ans Licht, macht sich laut, und selbst wenn alle schweigen, schreien es die Steine heraus.
„Loud and proud!“ Jesus tritt als das auf, was er ist, und er tut es dieses Mal laut, auch wenn er weiß, dass er die Menschen in Kürze mit einer anderen Wahrheit konfrontieren muss, nämlich der Wahrheit, dass er zwar der König und Retter ist, den die Propheten angekündigt haben, aber dass er nicht ihren Vorstellungen entsprechend mal eben mit allem aufräumen wird. Er wird den anderen Weg gehen, den die Menschen erst später verstehen werden, den Weg in den Tod und aus dem Tod heraus, den einzigen Weg, der wirklich Rettung bringt. Doch das kann er der jubelnden Menge vor den Toren Jerusalems noch nicht sagen, es würde sie überfordern.
„Proud to be me!“ Jesus ist anders – und er steht dazu, in aller Konsequenz. Der Einzug in Jerusalem ist seine Pride-Parade, die Parade eines Königs, ja, aber eines anderen und in diesem Sinne „queeren“ Königs. Es ist die Parade eines Königs, der abweicht von der Norm, eines Königs, der scheitern muss und dadurch erst wirklich siegen kann, und diese Rolle nimmt Jesus in diesem Moment für sich an.
Und was bedeutet das für uns? In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 begannen an der Christopher Street in New York buchstäblich die Steine zu schreien, als im „Stonewall Inn“, einer Schwulen-Bar, die Menschen Widerstand leisteten gegen die willkürliche Unterdrückung und Diskriminierung durch die Polizei. Dieser Aufstand war der Anfang der Lesben- und Schwulen-Bewegung, die sich in den darauffolgenden Jahrzehnten immer weiter vergrößerte und ausdifferenzierte und heute nicht nur bei den jährlichen Pride-Paraden am Christopher Street Day weltweit für die Rechte queerer Menschen eintritt.
Jesu Leben und Lehre geben gerade denjenigen Zuspruch, die von der Gesellschaft ausgestoßen sind, weil sie – auf welche Weise auch immer – von der Norm abweichen. Jesus wird nicht müde zu predigen, dass Gottes Liebe allen Menschen gilt und dass bei ihm die Schwachen stark werden. Bei Gott dürfen wir sein, wie wir sind, wir sind seine Kinder, egal, wen wir lieben, Hauptsache, wir lieben. Und der Regenbogen ist zuallererst einmal Gottes Flagge, die Flagge seines Bundes mit den Menschen, eines Bundes der Liebe. Jesus macht uns, die wir auf unserem persönlichen Weg immer wieder zweifeln, anecken, abgestempelt und in Schubladen gesteckt werden, Mut, uns nicht zu verstecken, sondern zu dem zu stehen, was wir als Geschenk Gottes empfangen haben, nämlich eine bunte und einzigartige Identität.
„Don’t hide your pride!“ Jesus ist unseren Weg schon gegangen, er hat alle unsere Nöte schon durchlebt, ihm ist nichts fremd. Und er ist bei uns, wenn wir uns allein fühlen und uns fragen, ob wir richtig und liebenswert sind. Seine Antwort ist ja, und dieses Ja darf ruhig einmal laut ausfallen, damit es auch ankommt, bei uns selbst, in unserem Herzen, unserer Seele, aber auch in der Welt um uns herum.
Guter Vater, von dir geliebt zu sein, macht mich stolz.
Amen.