Die Sonne im Rücken
Noah und die Erfindung der Gnade
In der Antike gibt es viele Geschichten, die davon erzählen, wann und wie eine Sache zum ersten Mal aufgetaucht ist. Unter dem Stichwort „Aitia“ wird von den Ursachen bzw. Ursprüngen bestimmter Dinge, dem ersten Erscheinen und der Entstehung zum Beispiel von Pflanzen, Festen, Sternbildern und Naturphänomenen berichtet.
Die Geschichte von Noah und der Arche hat auch eine aitiologische Dimension, denn es ist die biblische Darstellung der Entstehung des Regenbogens. Gott setzt dieses Wetterphänomen an den Himmel als Zeichen für den neuen Bund, den er nach der Sintflut mit seinen Geschöpfen schließen will. Mit dem Regenbogen schenkt Gott ihnen auch das Versprechen, dass es nicht noch einmal zu einer solch drastischen Strafe und der Vernichtung allen Lebens kommen wird. Der Regenbogen wird zum Symbol eines Bundes, der auf Gnade beruht.
Und ich glaube, wir können in Noahs Geschichte dabei zusehen, wie Gott sein Konzept der Gnade erfindet. Bei Noah selbst wendet er zunächst ein einfaches Konzept der Gnade nach der Logik des Zusammenhangs von Tun und Ergehen an: Noah ist als Einziger rechtschaffen und gläubig, deshalb wird er von der geplanten Strafe ausgenommen.
Doch zum Ende der Geschichte verabschiedet sich Gott von eben diesem Konzept: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe“ (1. Mose 8,21 ). Gott entscheidet sich für seine Geschöpfe, obwohl er erkennt, dass sie böse sind und Fehler machen. Gnade ist ab jetzt nicht mehr an Verdienst oder bestimmte Eigenschaften gebunden. War sie bei Noah noch die Ausnahme für einen besonders ausgezeichneten Menschen, wird sie ab jetzt zur Regel, zu einem universalen Versprechen, das Gott seinen Geschöpfen schenkt, und zwar jedem Einzelnen, so wie es ist.
Dieses Konzept der Gnade wird Gott im Laufe seiner Geschichte mit den Menschen weiter entfalten und schließlich in seinem Sohn Jesus Christus perfektionieren. Jesus stirbt am Kreuz, um für die Sünden der Menschheit zu bezahlen und konkretisiert damit Gottes Versprechen der Gnade auf die eindrücklichste Art und Weise. Er nimmt alle Schuld auf sich, ohne selbst schuldig zu sein, und ermöglicht damit uns, Gottes Gnade zu erfahren, obwohl wir nicht unschuldig sind.
Doch was bedeutet das Versprechen der Gnade für uns hier und heute, wo wir vielleicht gerade das Gefühl haben, dass uns persönlich das Wasser bis zum Hals steht, dass wir in den Fluten unserer Sorgen und Nöte zu ertrinken drohen? Liegt es da nicht viel näher zu fragen: Womit habe ich das verdient, Gott?
Das Besondere am Regenbogen ist, dass man ihn immer dann besonders gut oder überhaupt sieht, wenn Wolken am Himmel sind. Beides geht nur gleichzeitig. Die Erfahrung von Not und Leid trennt uns nicht von Gott, sondern schweißt uns umso stärker mit ihm zusammen, so wie der Regenbogen erst vor dem Hintergrund von dunklen Wolken richtig zu leuchten beginnt.
Was bringt es mir also, an Gottes Versprechen zu glauben? Es fällt schwer, aber es hilft. Weil es uns frei macht von Grübeleien über das Warum. Weil es stattdessen Raum für Hoffnung und Zuversicht schafft, weil es Kräfte freisetzt, die wir brauchen, um Auswege zu entdecken. Weil es hilft, das Unvermeidliche zu ertragen und Frieden zu finden. Gott ist gnädig und seine Gnade gilt mir. Ganz persönlich. Unabhängig von meinem Verdienst oder meiner Schuld und auch unabhängig von dem, was mir widerfährt. Ich habe Gottes Gnade. Das ist sein Versprechen. Es kann also passieren, dass eine Katastrophe mich betrifft, aber sie gilt mir nicht. Gott ist auf meiner Seite. Er ist nicht mehr der, der die Katastrophe schickt, sondern der, der mit mir hindurchgeht.
Als Kinder lernen wir: Wenn du einen Regenbogen sehen willst, musst du die Sonne im Rücken haben und zu den Regenwolken schauen. Es mag also sein, dass du gerade in Dunkelheit blickst oder dass du sogar einen richtig dicken Regenguss erlebt hast. Aber wenn du den Regenbogen siehst, wenn du dir Gottes Versprechen vor Augen führst, dann weißt du, dass du die Sonne im Rücken hast. Gerade in der Not ist es Gott, der hinter dir steht, der dir den Rücken stärkt.
Dieses Konzept der Gnade ist vielleicht herausfordernder als das „einfache“, „alte“, aber es ist bei genauerem Hinsehen eine geniale Erfindung Gottes, weil sie uns so unendlich viel weiter trägt und unserer Beziehung zu ihm eine so große Tiefe verleiht.
Guter Vater, danke für deine Gnade.
Amen.