sammlung

Die Brüche vergolden

Einzigartigkeit hervorheben

Mal ehrlich: Wer verschenkt schon ne ramponierte Reisschale? Die Japaner machen das und nennen das Kintsugi. Kaputte Keramik kunstvoll zu reparieren ist da ne alte Tradition und grad voll der Hipster-Trend. Und so kam mein Freund Marcus auf die Idee mit der Müslischale als Geburtstagsgeschenk

– die war aus hellem Porzellan und hatte überall kleine und größere goldene Risse. Marcus hatte sie nämlich vor der Feier einmal ordentlich auf den Fußboden in seiner Küche geschmettert, um dann die Teile wieder zusammen zu kleben. Alle Bruchstellen an der Schüssel hat er anschließend mit goldener Farbe bemalt und sie so richtig deutlich betont.
Marcus merkte, dass ich dieses Geschenk total cool fand, diese einzigartige Müslischale mit ihren goldenen Brüchen. Und deshalb hat er mir erklärt, was Kintsugi für ihn bedeutet: Die Bruchstellen der Schale werden nicht vertuscht. Ganz im Gegenteil – die Vergoldung hebt die Brüche erst richtig hervor. Marcus findet, das wäre doch auch im Leben ne gute Einstellung: Die kleinen und großen Brüche nicht immer gleich verdecken und vertuschen. Die gehören nämlich zu uns, die machen uns aus – zusammen mit den guten und heilen Seiten des Lebens. Ich glaube, es ist nicht so leicht und ganz schön mutig, so deutlich zu den eigenen Rissen im Leben zu stehen. Aber es ist einfach ne Frage der Haltung. So, wie Kintsugi auch eine besondere Kunstform ist: Nimm deine eigenen Bruchstellen an und vergolde sie sogar.

Daniela Kornek

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