sammlung

Den Anblick aushalten

Meditation zu einer Skulptur von Anatol Herzfeld

Auf dem Gelände der Museumsinsel Hombroich befinden sich neben Ausstellungsgebäuden und begehbaren Installationen auch einige in die Natur eingebettete Skulpturen und andere Kunstobjekte, darunter mehrere Arbeiten des Beuys-Schülers Anatol Herzfeld, der auf der Museumsinsel seine Werkstatt hatte. Eine seiner Skulpturen ist ein überlebensgroßer Kopf aus grauem Stein, durch die Witterung und die natürliche Umgebung leicht grünlich verfärbt. Der Kopf liegt auf dem Boden hinter den Stämmen zweier Bäume, das Gesicht ist schräg nach oben ausgerichtet. Die Nase wurde nur flach ausgearbeitet, Augen und Mund dagegen sind deutlich akzentuiert. Die Augen sind geschlossen, die Grenze zwischen oberem und unterem Lid als Kerbe markiert, wobei das obere Lid etwas höher hervorsteht als der untere Teil des Auges. Die Augäpfel liegen jeweils in einer Höhle, die aus Nasenrücken und Stirn gebildet wird. Der Mund ist leicht geöffnet, die Lippen bilden nach oben und unten einen Bogen und stehen aus dem Gesicht hervor. Um den Kopf herum ist auf Stirnhöhe ein Ring aus einzelnen ineinandergesteckten Eisenschienen gelegt, die jeweils mit fingerlangen, in verschiedene Richtungen abstehenden spitzen Dornen aus Eisen versehen sind.

Die Skulptur hält meinen Blick fest, ich kann nicht einfach weitergehen. Der Anblick berührt mich, er löst etwas in mir aus. Ich bleibe stehen und lasse ihn auf mich wirken.

Da liegt ein Kopf auf dem Boden, an sich schon ein befremdlicher Anblick. Wo ist der Körper? Jesu Kopf soll es sein, das erkenne ich an der Dornenkrone. Jesu Kopf liegt vor mir auf dem Boden, überlebensgroß. Der darf da doch so nicht liegen. Wo ist das Kreuz? Müsste er nicht am Kreuz hängen? Müsste ich nicht ehrfürchtig und demütig zu ihm aufblicken? Stattdessen liegt er am Boden, ich schaue auf ihn herab. Ich schaue auf einen herab, der mir doch haushoch überlegen ist. Das beunruhigt mich. Auf jemanden herabzublicken bedeutet, über ihm zu stehen, Macht über ihn zu haben. Diese Umkehrung der Verhältnisse fühlt sich falsch an, und doch kann ich mich von dem Anblick nicht lösen. Ich blicke auf Jesus herab und es kommt ein anderes Gefühl in mir auf, ein Gefühl der Schuld. Habe ich ihn da hingebracht? Bin ich schuld, dass er so daliegt? Ich stehe hier, Jesus liegt vor mir auf dem Boden, mir zu Füßen. Ich könnte ihn treten, ihn anspucken oder andere schlimme Dinge tun, er ist mir ausgeliefert. Ich will das gar nicht, aber ich werde durch die Skulptur dazu aufgefordert, eben diesen Anblick und diesen Gedanken auszuhalten. Was, wenn ich schuld bin?... Ich bin schuldig, mit dieser Erkenntnis konfrontiert mich das Kunstwerk. Ich habe Jesus nicht ans Kreuz geschlagen, ihn nicht getötet, ihm nichts Böses getan, und doch ist es auch meine Schuld, für die er gestorben ist. Dass Jesu Kopf da so liegt, hat etwas mit mir ganz persönlich zu tun, mit meinem Dasein als Mensch. Es ist auch meine Schuld, die ihn da hingebracht hat.

Mein Blick fällt auf die zwei Bäume, hinter deren Stämmen der Stein leicht eingebettet liegt. Es sieht so aus, als würde Jesus seine Arme nach oben strecken, dahin, wo ich stehe und ihn anschaue, als würde er mich umarmen wollen. Warum nur?, frage ich mich. Wo ich doch hier über ihm stehe und mich so schuldbeladen fühle… Doch das Kunstwerk konfrontiert mich eben nicht nur mit meiner Schuld, sondern auch mit der Vergebung. Ich spüre, wie das Gefühl der Schuld leichter wird durch diesen Anblick. Jesus liebt mich, trotz allem. Und ich bin eingeladen, auch diesen Gedanken zuzulassen, ihn auf mich wirken zu lassen. Die Skulptur vereint auf diese Weise Schuld und Vergebung - und genau daran erinnern wir uns ja in der Passionszeit und zu Ostern. Die ausgestreckten Arme zeigen mir, dass ich nicht in der Schuld stehen bleiben muss, sondern dass Jesus hilft, sie zu überwinden. Er streckt sich zu mir, er umarmt mich, er schenkt mir seine Liebe, eine immerwährende Liebe, die sich ständig erneuert, so wie die beiden immergrünen Nadelbäume, die zum Himmel wachsen.

Jesus hat die Augen geschlossen. Sein Mund ist aber geöffnet, als würde er etwas rufen. Betet er? Eli eli lema sabachthani – Mein Gott, Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Vielleicht in diesem Moment? Sein Gesicht ist nach oben zum Himmel gerichtet, seine Arme ragen ebenfalls in den Himmel. Jesus ruft zu seinem Vater – und ich stehe als Betrachterin mittendrin in diesem Gebet. Ich erlebe Jesus in dem Augenblick seiner tiefsten Verzweiflung, da, wo er mir als Mensch am allernächsten kommt. Es ist der Moment, in dem Jesus sich ganz hingibt. Und ich werde in diesen Moment einbezogen, denn er tut es ja für mich.

Mir kommt ein altes Kirchenlied in den Sinn, das in der Passionszeit und zu Ostern gerne gesungen wird. „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt. Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt. Liebe lebt auf, die längst erstorben schien: Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün.“ Das Lied nimmt Jesu Worte aus Johannes 12 auf, wo es heißt: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein; wenn es aber erstirbt, bringt es viel Frucht“ (Joh 12,24).
Die Skulptur wirkt wie eine künstlerische Umsetzung dieses Gleichnisses. „Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt.“ Kein Korn, sondern Jesu Kopf liegt auf dem Boden zwischen den Bäumen, buchstäblich auf die Erde gefallen. Ich sehe ihn, wie er im Moment des Todes versinkt. Andererseits strebt alles an der Skulptur nach oben, der Blick, die Bäume, die in den Himmel wachsen, wie der aus der Erde sprießende Halm. „Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt.“ Abstieg und Aufstieg, Werden und Vergehen - beide Richtungen sind in dem Kunstwerk zugleich enthalten, ich kann und soll mich nicht festlegen. Ich sehe Jesu Tod, und zugleich auch schon seine Auferstehung.
Schuld und Vergebung, Leben und Tod, beides liegt in der Passions- und Osterzeit so eng beieinander, und auch die Skulptur von Anatol Herzfeld vereint diese Aspekte auf so eindrückliche Weise, dass sie mich noch einmal ganz neu berühren.

„Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün.“ Am Ende bleibt die Liebe, sie besiegt den Tod, sie überwindet die Schuld, schenkt Vergebung und neues Leben. Und so ist es auch dieser Aspekt, der bei mir als Betrachterin des Kunstwerkes hängen bleibt. Ich sehe die Liebe in dem Gesicht, das sich für meine Sünden hingibt, für alle Zeiten in Stein gemeißelt. Ich sehe die Liebe, die sich mir in den grünenden, lebendigen Armen Jesu entgegenstreckt und die mich auffordert, dieses Geschenk in all seiner Größe anzunehmen - Gottes Liebe anzunehmen, die er mir durch Jesus Christus zuteil werden lässt. „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Joh 3,16).

Amen.

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